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Channel: Crazy Processes von Oliver Bendel
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Inge Scholl und mein Großvater

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Vor einiger Zeit kam mir zu Ohren, mein Großvater sei bei der SA gewesen. Ich war erstaunt und verwirrt. Mit dem Dritten Reich war ich schon deshalb vertraut, weil ich das Hans-und-Sophie-Scholl-Gymnasium besucht hatte. In einem Buch, das auf der Frankfurter Buchmesse 2012 vorgestellt wurde ("Die Rache der Nerds"), habe ich mein Zusammentreffen mit Inge Scholl geschildert. Meine Familiengeschichte erschien mir, während ich am Stand diskutierte, gänzlich unbefleckt. Neulich begann ich im Internet zu stöbern und stieß auf ein Bild mit dem Grabstein meiner Großeltern.

Als ich Inge Scholl kennenlernte, war ich 18 Jahre alt. Ihre jüngere Schwester war von 1932 bis 1940 auf meine Schule gegangen. Sophie kämpfte zusammen mit ihrem Bruder Hans gegen das NS-Regime, was beide bekanntlich mit ihrem Leben bezahlten. Hans und Sophie Scholl waren und sind, wie ich in meinem Buch betont habe, meine Helden. In der Stadt, in der ich aufgewachsen bin und aus deren Bauch auch Einstein kommt, in Ulm an der Donau, war in meiner Jugend in den 1980er-Jahren von der unheilvollen Zeit rein äußerlich nichts mehr zu bemerken, abgesehen von den baulichen Blähungen der 1950er, 1960er und 1970er und vom Fehlen der Juden. Jedes Jahr widmeten wir uns im Unterricht dem Nationalsozialismus. Aber wir erfuhren nichts darüber, wie die Juden Gesellschaft, Kultur und Wissenschaft bereichert hatten, und wurden nicht darüber belehrt, was Juden überhaupt sind, Angehörige einer Kultur oder einer Religion. Die von den Nazis ermordeten Widerstandskämpfer konnten wir uns vorstellen. Aber nicht die anderen Opfer.

Der Duft der Weißen Rose

Ich traf mich, wie in meinem Buch beschrieben, mehrmals mit Inge Scholl, um im Stadtarchiv weniger bekannte Fotos ihrer Geschwister für eine Präsentation an der Schule auszuwählen. Sie lebte mit ihrem Mann Otl Aicher in Rotis bei Leutkirch. Eine schlichte Schriftart von ihm trägt den Namen des Dorfs. Und jedes Kind, zumindest der 1970er- und 1980er-Jahre, kennt seine Olympia-Piktogramme mit den stilisierten Sportlern. Zusammen mit dem Winterthurer Künstler Max Bill hatte das Ehepaar die berühmte Hochschule für Gestaltung in Ulm aufgebaut, die nach einigen Jahren trotz des Erfolgs von ignoranten schwäbischen Politikern geschlossen wurde, die nicht rechtzeitig an ihren Maultaschen erstickt waren. Von Inge Scholl stammte das kleine, große Buch, das mit seinem grauen Einband in meinem Regal stand: "Die Weiße Rose". Der Duft dieser Blume berauschte unsere Generation, zumindest ein paar davon. In meine Stadt fuhr Frau Scholl, um sich die Haare machen zu lassen. Merkwürdigerweise weiß ich nicht, ob ich sie vor dem Friseurtermin sah oder danach. Sie ist vor langer Zeit gestorben. Ihr Leben hat alles umspannt, von den schrecklichen Jahren im Dritten Reich bis zu unseren für sie nicht so wichtigen und für mich so wichtigen Treffen, vom tragischen Tod ihres Mannes bis hin zu ihren Jahren mit sich selbst.

Ich erinnere mich nicht mehr an den Raum, in dem wir arbeiteten, von einer gewissen Dämmerung abgesehen. Aber die Fotos sind immer noch vor meinem inneren Auge, hell und leuchtend, was an der Leselampe liegen mag, in meinem Buch auch als Gucklampe bezeichnet. Die hübsche Sophie. Der hübsche Hans. Im Licht der Lampe. Was empfand Inge Scholl, als wir das besondere Papier hin und her reichten, das Papier der Erinnerung? Ich war jünger, als ihre Geschwister bei ihrer Enthauptung gewesen waren, aber nicht viel. Aus ihrer Perspektive musste ich ein kaum erwachsener Mann gewesen sein, wenn überhaupt ein Mann. Nach meinen Treffen habe ich erfahren, dass sie von mir angetan war. Ich weiß nicht mehr, wer mir das erzählt hat, vielleicht jemand von der Ulmer Volkshochschule, die sie aufgebaut und geleitet hatte, und wo eine Lesung mit mir arrangiert worden war. Und ich weiß nicht mehr, in welchem Sinne sie das meinte. Auf jeden Fall erfüllte es mich mit Stolz, so etwas zu hören, gerade weil ich nur eine Fußnote in ihrem Leben war, eine Nummer mit ein paar Wörtern oder Sätzen dahinter.

In jenen Tagen war ich gerne in der Ulmer Stadtbibliothek, die sich im selben Gebäude wie das Archiv befand, im über die Stadtgrenzen hinaus bekannten Schwörhaus, auf dessen Balkon jedes Jahr der Oberbürgermeister den historischen Eid auf die Stadtverfassung erneuert. Ich wurde nie ein Meister im Bedienen des Katalogs, der aus zehntausenden Karteikarten in Holzschubern in einem raumfüllenden Möbel bestand, aber ich war hartnäckig und getraute mich, die Bibliothekarinnen zu fragen. Es waren meistens Bibliothekarinnen, als wären nur sie in Liebe zum Buch entbrannt, und als wären nur sie in der Lage, diese soweit abkühlen zu lassen, dass sie die papierenen Geschöpfe in ihr Gefängnis stecken konnten. Ein typisches Exemplar half mir beim Finden, eine Suchmaschine mit Pagenkopf und ohne Werbung am Körper. So ähnlich habe ich es auch in meinem Buch formuliert.

Der Krieg war Geschichte

Als ich mich mit Inge Scholl traf, war mein Ahnherr bereits lange unter der Erde. Ich hatte ihn und seine Frau regelmäßig in Neu-Ulm heimgesucht, war in ihr abweisendes Backsteingebäude eingedrungen, nachdem ich die Donau mit Hilfe der recht neuen Fußgängerbrücke überquert hatte. Ich war bei ihnen, wie man als Enkel bei den Großeltern ist. Zwischen Hingezogenheit und Unverständnis. Sie jammerte, er schwieg. Er lächelte. Selbst als sie jammerte. Ich ging einkaufen, Lebensmittel, Getränke und Putzzeug. Es musste immer eine ganz bestimmte Lindt-Schokolade sein, und ich weiß nicht mehr, ob sie nur für sie oder auch für ihn war. Wir sprachen nie über den Krieg. Der Krieg war Geschichte, ich ein Kind. Ich erhielt 5 Mark, wenn ich Glück hatte, und kehrte nach Baden-Württemberg zurück, in den Westen von Ulm, in die oberste Etage des Wohnblocks. Die Männer mit dem hochgeschlagenen Hosenbein in den Nachbarstraßen wurden weniger und weniger. Sie humpelten aus der Geschichte hinaus, aus meiner Geschichte. Mein Opa war unversehrt. Dann war er tot. Ich habe sein Grab nur wenige Male besucht, niemals allein, immer im Rahmen eines Anlasses.

War er wirklich bei der SA? War er einer von denen, die das Unrecht, das Leid mit vorbereitet, verursacht, verantwortet haben? Wie stand er dazu, dass ich ans Hans-und-Sophie-Scholl-Gymnasium ging? Was hätte er dazu gesagt, dass ich mit Inge Scholl verkehrte? Eine menschliche Suchmaschine konnte mir nicht helfen. In einem Archiv würde ich nichts finden. Ich nahm mein Notebook, rief den Browser auf, tippte in den Suchschlitz eine Wortkette ein, Vor- und Nachname, danach noch den die Abhängigkeit ausdrückenden Namen der bayerischen Stadt. Plötzlich war ich auf einer Seite mit einem Foto vom Grab meiner Großeltern. Eine aufrechte Granitplatte, ein eingraviertes Kreuz, beide Namen, jeweils Geburts- und Todesdatum. Eine Liste auf der Seite: "Cemetery: Friedhof Neu-Ulm", "Marriage: Not Available". Überhaupt war wenig verfügbar, nichts zu "Relationships", nichts zur "Military Information", kein "Memorial", keine "Personal History". Seit Jahren pilgern "Volunteers" auf der ganzen Welt zu Friedhöfen, knipsen die Grabsteine und lassen die GPS-Koordinaten ermitteln. Die Bilder werden auf Plattformen hochgeladen, die von MyHeritage, BillionGraves und Co getragen werden. Über Google Maps kann man sich den Ruhestätten vom Himmel her nähern. Und über einfache Funktionen kann man Daten und Informationen (auch Fehlinformationen) hinzufügen. Ich gab über ein Klappmenü mit dem Wort "Spouse" an, was meine Großmutter für meinen Großvater war.

Gegen das Vergessen

Als Privatperson bin ich unangenehm davon berührt, dass Fremde meinen Vorfahren im Nachhinein so nahe gekommen sind. Zugleich finde ich es erstaunlich, dass ich das Grab, an dem ich zuletzt vor 20, 30 Jahren gestanden bin, wieder vor Augen habe. Als Wissenschaftler habe ich Verständnis für das Interesse von Genealogen. Ich habe Respekt vor ihrem Gegenstand. Sie, in der Mehrzahl unbezahlte Amateurforscher, leisten in diesem Bereich hervorragende Arbeit. Sie fördern zutage, sie stellen fest, sie sichern. Sie beschreiben Menschen, ihre Beziehungen und ihre Zugehörigkeiten. Wenn etwas gegen das Vergessen getan werden kann, dann bin ich mit von der Partie. Womöglich gibt es ja Details im Leben meines Großvaters, das nicht nur ich kennen sollte, und für die Nachweise erbracht werden können. Ein Buch muss deshalb wohl nicht geschrieben werden. Einige Fakten im Internet genügen vollauf.

Im Jahre 2014 reiste Moshe Caine, Professor an einer Universität in Jerusalem, nach Bad Neustadt an der Saale. Er hatte von dem kleinen jüdischen Friedhof gehört. Er sah ihn, er gefiel ihm, und er wollte, dass jeder ihn sehen konnte. Die Jüdische Allgemeine schrieb am 11. Dezember: "Er plante eine Homepage, auf der die jüdische Gemeinde digital wiederaufersteht." Auch, so die Zeitung, um dem drohenden Verlust der Informationen und der Kulturdenkmäler zuvorzukommen. Das Ergebnis von Caines Arbeit kann man unter www.judaica-badneustadt.de betrachten. "Wiederentdeckte Gemeinden" lautet der Titel der Website. Angeboten wird ein 3D-Rundgang durch den alten Friedhof. Ob man davon etwas hat oder nicht, ob man es mag oder nicht, ob man mitmacht oder nicht: Die Bilder der Gräber unserer Ahnen werden zu unserem Leben gehören. Und wenn unser Leben vorbei ist, werden die Bilder unserer Gräber online sein.

Links

http://grabsteine.genealogy.net">
http://grabsteine.genealogy.net
http://billiongraves.com
http://www.myheritage.de
http://www.judaica-badneustadt.de
http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/20943

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